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28.11.25

Dr Armin FIscher DE

Dr. med. Armin Fischer im Experteninterview: Einblicke in Beckenbodentraining und modulierte Mittelfrequenzstimulation

Dr. med. Armin Fischer gehört seit vielen Jahren zu den führenden Fachleuten im Bereich Beckenbodentraining und modulierter Mittelfrequenzstimulation. Als Autor des Buches „Beckenbodentraining mit modulierter Mittelfrequenz-Therapie“ verbindet er wissenschaftliches Verständnis der Beckenbodenmuskulatur mit praktischer Erfahrung aus der therapeutischen Arbeit. Seine Expertise umfasst die funktionelle Anatomie des Beckenbodens, die Ursachen und Mechanismen von Beckenbodenschwächen sowie die gezielte Anwendung moderner Technologien zur tiefenwirksamen Muskelaktivierung.

Durch seine Arbeit leistet er einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung über die Bedeutung des Beckenbodens für Haltung, Stabilität, Wohlbefinden und Prävention. Im folgenden Fragebogen teilt er sein Wissen über die physiologischen Zusammenhänge, die Rolle der Atmung, den Einsatz mittelfrequenter Stimulation und praxisnahe Empfehlungen für verschiedene Zielgruppen.


myostyle: Was war Ihre Motivation, sich so intensiv mit dem Beckenboden zu beschäftigen und daraus ein Fachbuch zu entwickeln?


Dr. med. Armin Fischer: Seit nunmehr über 35 Jahren arbeite ich auf dem Gebiet der Urogynäkologie. Neben der operativen Behandlung ist die konservative (= nicht-operative) Therapie eine wesentliche Säule in den Bemühungen, das Leiden der an Beckenbodensenkung und -funktionsstörung leidenden Frauen zu behandeln. Dabei stehen uns viele verschiedene Mittel zur Verfügung. Vor der Anwendung der moduliert-mittelfrequenten Elektrotherapie in Form einer äußeren Applikation des Stroms waren bei der niederfrequenten Stromanwendung allerdings oft intravaginale Sonden erforderlich, um den Strom an den Ort zu bringen, wo er wirken sollte. Im Zusammenhang mit meinem eigenen EMS-Training entwickelten wir dann gemeinsam mit den Elektrophysiotherapeuten das Konzept des EEMA-Trainings, der externen elektrischen muskulären Aktivierung. Zunächst geschah das im Ganzkörperanzug. Die Entwicklung ging dann aber hin zu Klebeelektroden im Bereich der vorderen Bauchwand, der Oberschenkelinnenseite oder der Glutealregion. Die erzielten Ergebnisse mussten dann wissenschaftlich evaluiert werden, um Aussagen zur Wirksamkeit machen zu können. In zahlreichen Publikationen, u.a. in Buchform, versuchten wir dann, dieses Therapiekonzept zu verbreiten und in Kursen zu unterrichten.


myostyle: Wie würden Sie den Aufbau und die Funktion des Beckenbodens in einfachen, verständlichen Worten erklären?


Dr. med. Armin Fischer: Der Beckenboden ist eine sehr komplexe Kombination aus Organen (Blase, inneres Genitale, Rektum), Bindegewebsschichten und Muskulatur, die bei der Frau darauf ausgerichtet ist, eine vaginale Geburt zu ermöglichen. Das Bindegewebe dient der Formgebung, dem Lageerhalt und der Kraftübertragung. Die Muskulatur liefert die erforderliche Stabilität und die nötigen Kräfte, die Funktion der Organe sicherzustellen. Dabei ist die Muskulatur 3-dimensional in Schichten kulissenartig abgeordnet, um Öffnung und Verschluss zu ermöglichen.


myostyle: Welche typischen Beschwerden oder Funktionsstörungen entstehen, wenn der Beckenboden geschwächt ist? Und welche frühen Warnzeichen werden häufig übersehen?


Dr. med. Armin Fischer: Genetische Disposition („schwaches Bindegewebe“), körperliche Belastungen im Laufe des Lebens (Arbeit, Geburt(en), Sport, Fehlbelastungen durch Erkrankungen wie z.B. Asthma/COPD), vor allem aber Schwangerschaften und Geburten belasten den Beckenboden sehr. Die aus einer Veränderung am Beckenboden, sei es funktionell und/oder strukturell, resultierenden Symptome sind dabei mannigfaltig. Druckgefühl nach unten, Fremdkörpergefühl, Scheuern, Wundsein, Vorfall von Scheidenanteilen bis hin zum Gebärmuttervorfall sind dem Senkungsleiden zuzuordnen. Belastungsinkontinenz (Urinverlust beim Husten, Springen, Laufen, Aufstehen) resultiert häufig aus der Lockerung des Bindegewebes, das um die Harnröhre herum für die Kraftübertragung der Muskulatur auf den Verschlussmechanismus sorgt. Senkungsassoziierte Blasensymptome sind eher der imperative Harndrang (sofort auf die Toilette gehen müssen, wenn sich der Harndrang einstellt), das häufigere Zur-Toilette-Gehen-Müssen (verglichen mit früher), das dann wiederum oft vergesellschaftet ist mit einem Nicht-Mehr-Einhalten-Können auf dem Weg zur Toilette, bedingt durch die insuffiziente Kraftübertragung. Oft stellen sich die Symptome vor allem im Umfeld der Perimenopause (Wechseljahre) ein, weil durch die Reduktion der Östrogenproduktion der Eierstöcke hier zusätzlich ungünstige Faktoren zum Tragen kommen.

Damit sind Frühsymptome häufigerer Harndrang (ohne dass ein Harnwegsinfekt im Spiel ist), Druckgefühl nach unten (vor allem ab nachmittags/abends und nach körperlicher Belastung) und Urinverlust bei Belastung.


myostyle: In Ihrem Buch beschreiben Sie die Vorteile der modulierten Mittelfrequenz. Was unterscheidet diese Stromform grundlegend von niederfrequenter Stimulation oder klassischem EMS?


Dr. med. Armin Fischer:

  • Einfache und externe Anwendung – keine Vaginalsonden.
  • Volumenwirkung des moduliert-mittelfrequenten Stroms (größere Volumina werden erreicht).
  • Direkte Wirkung auf die Muskelzellen, die nervale Impulsübertragung ist nicht erforderlich – sehr hilfreich bei Schädigung der Beckenbodenmuskulatur durch Trauma.
  • Bei lokaler Anwendung tgl. 20-minütiges Training möglich.
  • häufig 3 Monate ausreichend, bis mit stromfreiem Eigentraining weitergearbeitet werden kann.

myostyle: Warum eignet sich Mittelfrequenz aus Ihrer Sicht besonders gut für tiefliegende Muskelgruppen wie den Beckenboden?


Dr. med. Armin Fischer: Bedingt durch die Volumenwirkung des moduliert-mittelfrequenten Stroms kann man die tiefe Muskulatur bei entsprechender Platzierung der Elektroden gut erreichen, ohne den Strom vaginal applizieren zu müssen und ohne von der Intaktheit der nervalen Versorgung der noch stoffwechselaktiven Muskelzellen abhängig zu sein. Verbessern kann man die Stromwirkung weiterhin durch entsprechende einfache physiotherapeutische begleitende Übungen.


myostyle: Welche physiologischen Effekte treten bei Mittelfrequenz in der Muskulatur auf, die bei anderen Stromformen so nicht erreicht werden?


Dr. med. Armin Fischer: Für die Anwenderinnen besonders angenehm ist, dass bei dieser Form des EEMA-Trainings, ganz gleich, ob als Ganzkörpertraining oder regional, kein Muskelkater auftritt, obwohl die Muskelzellen effektiv stimuliert und damit zum Wachstum angeregt werden. Dabei dringt der Strom durch schmerzlose (!) Überwindung des Hautwiderstandes tief ins Gewebe ein. Durch die Stimulation der Muskulatur bekommt der Anwender ein Gefühl dafür, wo sich die Muskelaktivität überhaupt abspielt und kann so gezielt vom mehr oder weniger rein passiven Training in ein eigenaktives (ggf. biofeedback-unterstütztes) Training überführt werden (propriozeptive Rückmeldung). Verbesserung der Durchblutung und Regeneration (ab 6. Woche postpartum oder postoperativ) durch positiven Einfluss auf den Gewebsstoffwechsel werden ebenfalls postuliert. Daneben findet mittelfrequenter Strom auch in der Reduktion von Schmerz und Hypertonus der Muskulatur Anwendung, allerdings ist das nicht der Fokus der EEMA-Behandlung.


myostyle: Welche Erfahrungen haben Sie in der Praxis gesammelt – was spüren Anwender typischerweise zuerst, wenn sie mit Stromtherapie arbeiten?


Dr. med. Armin Fischer: Eigentlich ist es das „Aha“-Erlebnis, das immer wieder als erstes genannt wird – „da ist also mein Beckenboden“. Diese Erkenntnis, wo die Kraft entsteht, wo ich Kraft erzeugen kann, ist ein Schlüsselerlebnis im Zusammenhang mit dem Muskeltraining. Das zweite, was berichtet wird, vor allem von Frauen, die schon niederfrequentes Training absolviert haben, ist, dass es absolut nicht unangenehm, schmerzhaft oder reizend ist und dass es keinen Muskelkater gibt.

Interessanterweise ist es im Hinblick auf die Einschätzung der Frauen, was die Effektivität der Anwendung angeht, ähnlich wie bei der (oft fehlenden) Wahrnehmung einer Insuffizienz der Beckenbodenmuskulatur und -aktivität vor der Therapie: etwa 30% der Frauen haben keine Möglichkeit zu erspüren, ob die Muskulatur des Beckenbodens angespannt/entspannt wird bzw. ob sich unter der Behandlung ein Hypertrophieeffekt eingestellt hat. Das macht es umso wichtiger, dass, vor allem nach Geburten, im Rahmen der 6-Wochen-Kontrolle hier ein Status erhoben und im Bedarfsfall elektrophysiotherapeutisch unterstützte Frührehabilitation eingeleitet wird.


myostyle: Für welche Zielgruppen eignet sich Beckenbodentraining mit Mittelfrequenz besonders – therapeutisch und präventiv?


Dr. med. Armin Fischer:
Postpartal (präventiv oder therapeutisch):

  • Mehrlinge
  • Kindsgewicht > 3800g
  • Kopfumfang > 37 cm
  • lange Eröffnungsperiode
  • lange Austreibungsperiode
  • Vakuum- oder Zangenextraktion
  • sekundäre Sectio wegen Geburtsstillstand
  • Beckenbodenfunktionsstörungen bei Mehrparität vor der aktuellen Geburt
  • Ausgeprägter BB-Schaden unter der Geburt
  • Ausgeprägter Senkungszustand der Scheide/Gebärmutter im Rahmen
  • der Entlassungsuntersuchung nach der Geburt
  • Dammrisse III.-IV.°

Therapeutisch:

  • Patientinnen mit Belastungsinkontinenz
  • Patientinnen mit senkungsassoziierten Drangproblemen
  • Patientinnen mit Senkung und simultan hypokontraktilem Beckenboden
  • in der Regel im Rahmen einer multimodalen Behandlung (lokales Estriol, Pessare, …)

myostyle: Wie oft sollte aus Ihrer Sicht ein Training stattfinden, damit spürbare und nachhaltige Ergebnisse erreicht werden?


Dr. med. Armin Fischer: Mit der Entwicklung handlicher Heimgeräte kann man eigentlich gut folgendes Behandlungsregime anbieten:

1. Einweisung in Geräteanwendung und in die zu den Stimulationssequenzen passenden physiotherapeutischen Übungen durch einen entsprechend ausgebildeten Physiotherapeuten/Hebamme (45-60 Minuten).

2. Tgl. Anwendung über 20 Minuten bei regionalem Strom; bei Ganzkörpertraining (2-) 3 Anwendungen/Woche.

3. Re-Evaluation des Behandlungserfolges nach.

  • 3 Monaten bei Heimanwendung mit regionaler Stromanwendung.
  • 18 Sitzungen (2/Woche) bei Ganzkörperanwendung im Rahmen einer kassenärztlichen Verordnung mit 2 x wöchentlich Krankengymnastik am Gerät über 3 x 6 verordnete Anwendungen (ist kassentechnisch nur so möglich).
4. Fortsetzung bei Bedarf.

  • weitere 3 Monate bei Heimanwendung.
  • evtl. bei gesetzlicher Krankenversicherung Dauerverordnung über einen bestimmten Zeitraum erwägen.


myostyle: Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Training oder in der Herangehensweise, die Sie grundsätzlich empfehlen?


Dr. med. Armin Fischer: Als Urogynäkologe sind bei mir (fast) ausschließlich Patientinnen vorstellig. In der Urologie wäre die Anwendung von EEMA grundsätzlich vor allem in der Nachbehandlung der Prostata-Operationen sinnvoll und wichtig. Bei externer Anwendung sehe ich da aber keine grundsätzlichen Unterschiede hinsichtlich Art und Dauer der Anwendung. Den Effekt überprüft dann natürlich der betreuende Urologe.


myostyle: Welche Kontraindikationen oder Vorsichtsmaßnahmen sollten Anwender kennen, bevor sie mit EMS oder Beckenbodentraining beginnen?


Dr. med. Armin Fischer: Es gibt eine Reihe davon, die es zuvor auch gewissenhaft abzufragen gilt:

1. Herzschrittmacher/Defibrillatoren

2. Schwangerschaft

3. Tumorleiden

4. Beckenvenenthrombose (Zustand nach)

5. Ggf. neurologische Erkrankungen (z. B. MS, Parkinsonismus, wobei da auch anderslautende Erfahrungen berichtet werden, gerade im Zusammenhang mit der MS), Spastik.

6. Akute Entzündungen (im Becken)

7. relativ:

  • Hauterkrankungen (im Gebiet der Anwendung)
  • Schwere kardiovaskuläre Erkrankungen
  • Epilepsie
  • Neuropathie
  • Antikoagulation
  • Gelenkprothesen (?)
  • bis 6 Wochen postoperativ (bei Ganzkörpertraining oder OP im Beckenbereich)
  • Endometriose (v.a. im akuten Schub)
  • unklare Unterbauchschmerzen


myostyle: Haben Sie allgemeine Empfehlungen, wie man Muskelschwäche im Alter und damit verbundene Beckenbodenprobleme vorbeugen kann?


Dr. med. Armin Fischer: Der alterungsbedingte Prozess der Reduktion der Körpermuskelmasse (Sarkopenie) ist im Zusammenhang mit der älter werdenden Bevölkerung sicherlich ein breites Anwendungsfeld der externen elektrischen muskulären Aktivierung mit moduliert-mittelfrequentem Strom. Das gilt vor allem im Zusammenhang mit den z.B. arthrosebedingten Komorbiditäten, die die Bewegungsmöglichkeiten einschränken.

In meinem Bereich kann ich nur dafür plädieren, sich frühzeitig in eine urogynäkologische Betreuung zu begeben, wenn Anzeichen der Beckenbodendysfunktion auftreten. Wünschenswert wäre, wenn diese Kompetenz im Rahmen der ja häufig wahrgenommenen Vorsorgeuntersuchungen zur Verfügung stünde, was leider nicht der Fall ist, weil die meisten Gynäkologen nicht ausreichend erfahren auf dem Spezialgebiet der Urogynäkologie sind. Eine Vorstellung in einem entsprechenden Schwerpunkt ist dann parallel zur „normalen“ gynäkologischen Betreuung vielfach erforderlich und wichtig, auch wenn man dafür den ein oder anderen Kilometer Anreise in Kauf nehmen muss.

Dazu gehört aber auch, dass man nicht vor den sich einstellenden Symptomen die Augen verschließt und bei dem noch immer tabuisierten Thema lieber schweigt als sich einer kompetenten Fachperson anzuvertrauen und früh-/rechtzeitig Hilfe und Unterstützung zu suchen. Denn die Anforderungen bei vielen Frauen im Alter durch nebenberufliche körperliche Belastungen wie Angehörigenbetreuung und -pflege dürfen im Hinblick auf ihren negativen Einfluss auf die Beckenbodengesundheit nicht unterschätzt werden. Ähnliches gilt z.B. für schwere Garten- und Landarbeit oder fortgesetzter Einsatz in der Landwirtschaft. Eine frühzeitige Anwendung von Hilfsmitteln (z.B. Pessare, Contam-Tampons) bei derartigen Arbeiten, ggf. in Kombination mit EEMA, lässt hier oft Schlimmeres verhindern. Gut für die Frauen, schlecht für die Krankenhäuser, wenn dadurch die OP-Zahlen reduziert werden.