14.09.23

experteninterview wegener

Prof. Dr. med. Bernd Wegener im Experteninterview: EMS-Training bei orthopädischen Problemen

Der menschliche Körper braucht Bewegung. In Zeiten von Homeoffice und immer mehr sitzenden Tätigkeiten wird die Wirbelsäule extrem belastet und die orthopädischen Probleme nehmen zu. Kann das im Fitnessbereich populäre EMS-Training auch zur Vorbeugung und Behandlung von orthopädischen Problemen beitragen?

Zu diesen und anderen Fragen haben wir Prof. Dr. med. Bernd Wegener befragt. Er ist Leiter des Fachbereichs Wirbelsäule am LMU Klinikum in München und arbeitet dort als Oberarzt der Orthopädischen Klinik. Zudem hat er rund um das Thema der elektrischen Muskelstimulation bereits zahlreiche wissenschaftliche Studien durchgeführt und Publikationen veröffentlicht.

myostyle: Sie sehen in Ihrer täglichen Arbeit die Folgen von zu wenig Bewegung. Wie ist Ihre persönliche Einschätzung - Ist weiterhin Bedarf in der Aufklärung, wie schädlich zu wenig Bewegung ist?

Prof. Dr. Wegener: Bewegung und körperliche Ertüchtigung sind für einen gesunden Körper elementar - sowohl für die Prävention orthopädischer Probleme als auch zur Vorbeugung und Behandlung der Volkskrankheiten wie erhöhter Blutdruck oder Diabetes. 

Bereits seit einigen Jahren wird intensive Aufklärung für mehr Bewegung betrieben, zum Beispiel durch die Medien, medizinische Einrichtungen oder Krankenversicherungen. Dennoch ist es auch weiterhin sehr wichtig, kontinuierlich Aufklärung zu betreiben. Die Fitnessbranche kann dabei einen weitreichenden Einfluss haben, weil sie breite Schichten der Bevölkerung erreicht und gleichzeitig ein sehr konkretes Angebot machen kann.

myostyle: Bevor wir noch spezieller auf ihre Studienergebnisse zu EMS eingehen, erst einmal für unwissende Leser*innen: Was ist EMS und wo wird es eingesetzt? Warum kommt das EMS Training bei orthopädischen Problemen zum Einsatz?

Prof. Dr. Wegener: Die Wirkung elektrischer Impulse auf die Muskulatur ist seit dem Altertum bekannt. Das EMS-Training, wie wir es heutzutage kennen, entwickelte sich aus der Entdeckung, dass durch einen elektrischen Stimulus eine Muskelkontraktion ausgelöst werden kann. 

Seit den 1970er Jahren wurde das EMS-Training systematisch weiterentwickelt und seither vorwiegend im Leistungssport und der Rehabilitation von Verletzungen eingesetzt. Dabei kommt es durch gezielte elektrische Impulse zu einer zyklischen Kontraktion der Muskulatur, die ähnlich wie bei einem gezielten Muskeltraining ist. 

Elektrische Muskelstimulation ist also eigentlich nichts anderes als intensives Krafttraining, nur dass die Arbeit von Strom und nicht durch die eigene Anstrengung verrichtet wird. Die Stromstöße sind richtig dosiert, spürbar, aber nicht schmerzhaft.

Viele orthopädische Probleme hängen mit einer nicht gut ausgebildeten oder nicht gut funktionierenden Muskulatur zusammen. Insbesondere für Rückenschmerzen ist bekannt, dass sie durch regelmäßiges Training der Bauch- und Rückenmuskulatur vermieden und erfolgreich therapiert werden können. 

Dabei ist ein regelmäßiges Training in Kombination mit Entspannungstechniken vor allem langfristig effektiver als Medikamente. Das Problem ist jedoch, dass viele Menschen körperliche Beeinträchtigungen haben, die sie an der Bewegung hindern. Zusätzlich können Scheinargumente wie etwa fehlende Zeit oder Angst vor Schmerzen dazu führen, dass die Menschen die Bewegung vermeiden.

myostyle: In einem Paper aus dem Jahr 2020 untersuchen Sie die Wirkung von EMS-Training, einmal pro Woche 20 Minuten, um gegen nicht-spezifische chronische Rückenschmerzen vorzugehen. 

Warum sehen Sie hier eine zeitliche Begrenzung für sinnvoll? Wie wirkt sich das EMS Training auf die Muskulatur aus und welchen Vorteil bietet es gegenüber einem herkömmlichen Training?

Prof. Dr. Wegener: Die Effektivität elektrischer Muskelstimulation bei chronischen Rückenschmerzen ist durch mehrere wissenschaftliche Studien belegt. Dabei gilt nicht das Prinzip „viel hilft viel“. Die Trainingszeit von 1x pro Woche 20 Minuten ist in verschiedenen Trainingsprotokollen zu finden. 

Das Risiko bei zu häufigem, zu langem und zu intensivem Training besteht darin, dass der Muskel durch eine zu große Belastung geschädigt werden kann. Die Menschen merken das durch eine intensiv schmerzende Muskulatur in den Tagen nach dem Training, ähnlich einem Muskelkater. Doch nicht jeder Muskelkater ist schädlich. 

Eine echte Überlastung kann anhand der Laborwerte erkannt werden. Durch eine sinnvolle Trainingssteuerung, die meiner Einschätzung nach wahrscheinlich am besten durch einheitliche Trainingsprotokolle in Einrichtungen mit geschultem Personal zu gewährleistet ist, ist das EMS-Training als sichere und effektive Methode des Krafttrainings zu beschreiben. Konkrete Empfehlungen für den Freizeitsport hat ein Expertengremium bereits erarbeitet.

myostyle: In einer Studie aus dem Jahr 2019 wurden die Trainingsergebnisse von zwei Gruppen Freizeit-Eishockeyspielern beobachtet. Eine Kontrollgruppe wurde dabei mit EMS trainiert, die andere nicht. Können Sie noch einmal kurz darlegen, was Sie herausgefunden haben?

Prof. Dr. Wegener: Im Rahmen einer Doktorarbeit konnten wir zeigen, dass sich die körperliche Fitness der Freizeitsportler unter dem regelmäßigen Einsatz von Ganzkörper-EMS-Training verbessern ließ. Konkret zeigte sich das in einer verbesserten Sprungkraft und Sprunghöhe sowie einer verkürzten Sprintzeit. 

Bei den technischen Fähigkeiten, wie zum Beispiel der Schussgeschwindigkeit des Pucks, zeigte sich dagegen keine Verbesserung. Auch die Sportler selbst berichteten von einem verbesserten Gefühl der muskulären Stabilität. Daraus konnten wir schlussfolgern, dass durch EMS-Training vor allem die Kraft-Parameter verbessert werden können. 

Bekannt ist, dass eine verbesserte Fitness und muskuläre Stabilität das Verletzungsrisiko im Sport senkt. Im professionellen Sport sind Methoden zur Verletzungsprophylaxe schon sehr lange bekannt, im Freizeitsport besteht da noch Nachholbedarf.

myostyle: Was können Menschen, die keine Profisportler sind, aber über EMS-Training nachdenken, für Vorteile erwarten?

Prof. Dr. Wegener: Die Effektivität von Ganzkörper-EMS-Training ist nicht nur für Eishockeyspieler belegt. In beinahe jeder untersuchten Sportart konnten diese positiven Effekte nachgewiesen werden. Und das gilt vor allem für Freizeitsportler, denn bei ihnen ist mehr Trainingspotential vorhanden als bei austrainierten Leistungssportlern.

Ganzkörper-EMS-Training hat sich als sichere und effektive Methode zum Krafttraining bewährt. Es sollte sinnvollerweise mit einem Ausdauertraining kombiniert werden. Dann sind die besten Trainingsergebnisse zu erreichen. Gute Kraft und Ausdauer sind wichtige Voraussetzungen für einen gesunden und leistungsfähigen Körper. Dazu kann Ganzkörper-EMS-Training einen Beitrag leisten.

myostyle: Verschiedene Studien haben sich mit potenziellen Gesundheitsrisiken beschäftigt, die beim EMS-Training auftreten können. Dabei geht es hauptsächlich um die Risiken bei einer Nutzung ohne geschultes Fachpersonal. 

Sie haben an Empfehlungen für das EMS-Training mitgewirkt. Warum ist eine fachmännische Beaufsichtigung wichtig?

Prof. Dr. Wegener: Ganzkörper-EMS-Training ist in sinnvoller Dosierung förderlich für die körperliche Leistungsfähigkeit und allgemeine Gesundheit. Für Laien ist es aber nicht immer einfach, die richtige Dosis hinsichtlich der Belastung zu finden. Durch den Einsatz von geschultem Trainingspersonal kann die Gefahr einer Überlastung reduziert werden. 

Anbieter von EMS-Equipment kooperieren häufig mit Akademien, die speziell für EMS-Training auch Trainer-Kurse durchführen. Um hier eine geeignete Grundlage zu schaffen, wurden nationale und internationale Experten-Empfehlungen veröffentlicht, wie ein sicheres Training ablaufen sollte. Es gibt Erkrankungen, bei denen ein EMS-Training kontraindiziert ist. 

Bei einigen ist ein solches Training tatsächlich nicht geeignet, andere profitieren jedoch von einem Ganzkörper-EMS-Training. Zur Sicherheit sollte dies aber durch medizinisch geschultes Personal gesteuert und überwacht werden. Deshalb sollte zwischen der Anwendung von Ganzkörper-EMS im Freizeitbereich und der medizinischen Trainingstherapie unterschieden werden.

myostyle: Zum Abschluss ein Blick in die Ferne: Warum halten Sie EMS für eine zukunftsorientierte Trainingsmethode?

Prof. Dr. Wegener: Befolgt man die Empfehlungen zur Durchführung von Ganzkörper-EMS-Training, habe ich nur sehr wenige Bedenken, dass gesundheitliche Schäden entstehen könnten. Unkenntnis, ungesunder Ehrgeiz und Leichtsinn können gesundheitliche Schäden nach sich ziehen. 

Das ist genauso wie bei jedem anderen Training und auch im sonstigen Leben möglich. Daher glaube ich, dass gesunde Menschen von einem angeleiteten und sinnvoll dosierten Ganzkörper-EMS-Training profitieren werden. Wer sich diese Kenntnisse selbst aneignet, kann wahrscheinlich auch selbstständig mit den im Markt verfügbaren Geräten erfolgreich trainieren. 

Dazu gibt es noch keine Studienergebnisse. Menschen mit Erkrankungen, die sich auf der Liste der Kontraindikationen befinden, sollten Ganzkörper-EMS-Training nur nach Rücksprache mit ihren behandelnden und sportmedizinisch geschulten Ärzten und unter Aufsicht von medizinisch geschultem Personal durchführen.