20.06.23

EXPERTENINTERVIEW

Rehabilitation mit EMS nach Unfällen: Im Interview mit Dr. med. Frank Thormählen

Dr. med. Frank Thormählen ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, zu seinen Schwerpunktthemen zählen die Sportmedizin und die medizinische Trainingstherapie. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit in der Praxis Dr. Buchholz & Partner Zentrum für Orthopädie Hamburg gibt er sein Wissen aktiv weiter: als Weiterbildungsbeauftragter der Ärztekammer Hamburg, als akademischer Lehrbeauftragter der Christian-Albrecht-Universität Kiel wie auch als Begründer des „Neustädter Sportkolloquiums“ zur Aus- und Weiterbildung von Sportmedizinern in Norddeutschland. Darüber hinaus ist Dr. Thormählen Mitglied im Expertenpool der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (Deutscher Sportärztebund).

myostyle: Die Elektrische Muskelstimulation (EMS) ist eine Behandlungsmethode, die aus modernen Reha-Zentren kaum wegzudenken ist. Seit wann gibt es diese Technik und wie lange hat es gedauert, bis sie sich etabliert hat?

Dr. med. Frank Thormählen: Historisch begründet wurde die Elektrotherapie von dem deutschen Naturforscher Christian Gottlieb Kratzenstein, der 1744 seine „Abhandlung von dem Nutzen der Electricität in der Arzneywissenschaft“ publizierte. Nach diversen Experimenten zur Behandlung mit Strom wurden Mitte des 20. Jahrhunderts dann erste Geräte entwickelt, deren Funktionsprinzip mit heutigen EMS-Geräten vergleichbar ist. Seit den 1990er-Jahren kommt EMS in verschiedenen neurologischen Gebieten zum Einsatz.

myostyle: EMS wird heutzutage unter anderem zur Rehabilitation nach Unfällen eingesetzt. Wie funktioniert das, was passiert da genau?

Dr. med. Frank Thormählen: Das grundlegende Wirkprinzip der EMS liegt darin, durch passive Muskelstimulation die Leistungsfähigkeit zu verbessern. „Passiv“ bedeutet, dass die Muskelkontraktion nicht aktiv vom Gehirn veranlasst wird, wie das normalerweise geschieht. Stattdessen wird der Muskel durch externe elektrische Impulse kontrahiert – und zwar sehr gezielt und kontrolliert.

Unfälle erzwingen häufig längere Inaktivitätsphasen – und das führt zum Abbau der Muskelmasse. Hier kann die passive Muskelstimulation via EMS helfen, die   Muskeln gezielt wieder aufzubauen bzw. präventiv dem Muskelschwund entgegenzuwirken.

myostyle: Nach welchen Unfällen ist der Einsatz von EMS aus Ihrer Sicht besonders sinnvoll – und was ist der beste Zeitpunkt, um mit der EMS-Behandlung zu beginnen?

Dr. med. Frank Thormählen: Die Art des Unfalls ist hier weniger entscheidend als die erzwungene Inaktivität während der Heilungsphase. Sowohl Knochenbrüche als auch Gelenkverletzungen können eine mehrwöchige, zum Teil sogar mehrmonatige Ruhigstellung erfordern. Hier kann, je nach individuellen Umständen, EMS zum Erhalt der Muskulatur bzw. zum Wiederaufbau bereits zurückgebildeter Muskeln.

Und ja, das richtige Timing ist hier entscheidend: Nach frischen Unfällen würde ich eine EMS-Behandlung keinesfalls empfehlen, sondern erst ab der mittleren Phase der Wundheilung: Wenn die Entzündungsreaktion nachgelassen hat, wenn ggf. das Gelenk wieder frei beweglich ist, kann EMS die Muskeln stärken. Teilweise wird EMS auch in Kombination mit Eis bzw. Kältebehandlung eingesetzt.

myostyle: Gibt es Fälle, bei denen der Einsatz von EMS im Rahmen von Rehabilitationsmaßnahmen nicht sinnvoll erscheint?

Dr. med. Frank Thormählen: Natürlich gibt es solche Fälle. Kontraproduktiv wäre EMS bei offenen Wunden oder Verletzungen – die Elektroden-Pads dürfen nur auf gesunder Haut verwendet werden.

Zurückhaltend wäre ich bei Epilepsien oder anderen neurologischen Erkrankungen, auch bei Patienten mit Herzschrittmachern und bei Schwangeren: Der Einsatz von EMS ist hier nicht grundsätzlich ausgeschlossen, erfordert aber besonders sorgfältige Abwägung und erhöhte Vorsicht.

Auch Endoprothesen wie beispielsweise ein künstliches Hüft- oder Kniegelenk können eine relative Kontraindikation für die EMS-Behandlung sein.

myostyle: Sehen Sie EMS als Alternative zu klassischen Reha-Maßnahmen oder vielmehr als sinnvolle Ergänzung des etablierten Therapiespektrums?

Dr. med. Frank Thormählen: Definitiv das zweite, aber das gilt nicht nur für EMS: Ein modernes Rehabilitationsprogramm kombiniert stets mehrere Verfahren, um das bestmögliche Ergebnis für den Patienten zu erreichen. Also die verschiedenen physikalischen Therapien und die krankengymnastischen Übungen – das alles gehört zusammen und da ist EMS eine wertvolle Ergänzung.

myostyle: Wie unterscheidet sich der Einsatz von EMS zu Rehabilitationszwecken vom Einsatz beim gesunden Menschen?

Dr. med. Frank Thormählen: Ein Rehabilitationsprogramm erfordert intensive Betreuung, weil es individuell gestaltet und immer wieder angepasst wird. Man muss den Patienten führen, die Entwicklung prüfen und Feedback einholen – was ist angenehm, was tut weh… und dementsprechend immer wieder nachjustieren.

Ein gesunder Mensch(en) dagegen kann nach einer fundierten Einführung auch allein mit EMS trainieren. Da gibt es gute, standardisierte Trainingspläne für die verschiedenen Leistungsniveaus und Ansprüche. Es ist auch möglich, den sportlichen Ehrgeiz zu testen und das Strompotenzial sukzessive zu steigern – aber auch das natürlich mit Sinn und Verstand, um eine Überlastung zu vermeiden.

myostyle: Wagen wir zum Abschluss einen Blick in die Zukunft: Welche Entwicklungen erwarten Sie im Bereich EMS? Ist das Potential dieser Technologie schon ausgereizt oder glauben Sie, dass da noch Luft nach oben ist?

Dr. med. Frank Thormählen: Grundsätzlich ist die Rehabilitation mit Elektrischer Muskelstimulation ein interessantes Feld, das meiner Meinung nach noch nicht ausreichend etabliert oder vielmehr zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Das hat auch mit der Anwendung zu tun, weil es wie gesagt eine intensive Betreuung erfordert – und die wird leider schlecht honoriert.

Aus sportmedizinischer Sicht ist das Verfahren schon seit langer Zeit anerkannt und erzielt gute Ergebnisse, auch im Verbund mit Ultraschall. Neben der Muskelstimulation (EMS) gibt es auch zweites Verfahren, das elektrische Impulse nutzt – die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), die insbesondere zur Schmerzlinderung dient. Das zeigt, dass die verschiedenen Formen der Elektrotherapie viel Potenzial haben und ich hoffe, dass sich Therapeuten und Ärzte weiter damit auseinandersetzen und diese als ergänzendes Therapieverfahren anwenden.